Auf der Suche nach den Zaaten
Die Heimat der Zaaten, das sollte das eigentliche Ziel dieser Reise sein. Die Zaaten, bzw. das was sich hinter diesem Namen verbirgt, dürfte nur Ethnographen oder wirklich erfahrenen Mongoleifahrern bekannt sein. Selbst Mongolen können oft damit nichts anfangen oder haben absolut exotische Vorstellungen von diesem Kleinstvolk im Norden ihres Landes.
Lüften wir zunächst das Geheimnis und betrachten die Sache mal ganz sachlich. Die Angehörigen dieses Minivolkes leben ausschließlich von der Zucht halbwilder Rentiere und sprechen ihre eigene Sprache, die aus dem Uigurischen kommt und daher von einem Mongolen nicht verstanden wird. Die genaue Zahl derer, die man sowohl von der Nationalität als auch der Lebensweise diesem Stamm zuordnen kann, dürfte um die tausend Seelen sein. Ihr Lebensraum sind die Hochgebirgsregionen westlich des Khuvsguul-Sees bis zur Grenze nach Tuwa. Um in dieses Gebiet zu gelangen, macht es sich zunächst erforderlich, die etwa 650 Kilometer von Ulaanbaatar in das Bezirkszentrum Moron zurückzulegen. Möglich ist diese Reise sowohl mit dem Kraftfahrzeug in zwei bis drei Tagen oder mit einem zweistündigen Flug. Aber Vorsicht vor einer voreiligen Entscheidung für die letztere Variante. Der zweistündige Flug kann ohne weiteres durch mehrtägiges Warten auf Flugwetter oder freies Fluggerät verlängert werden.
Moron ist dabei auch nur ein Etappenziel, denn der weitaus schwierigere Teil steht da noch bevor. Die nun folgenden 160 Kilometer bis zur nördlich gelegenen Siedlung Togol sind in jedem Fall eine mindestens zehnstündige Off-Road-Tour in schwierigstem Gelände. Bis vor drei Jahren konnte man diese Strecke auch im Kleinflugzeug bewältigen, aber seit der Einführung der Marktwirtschaft und dem Wegfall der meisten staatlichen Subventionen, ist diese Flugroute, wie viele andere auch, aus Wirtschaftlichkeitsgründen eingestellt. Nur am Rande bemerkt, ist damit aus der ehemals durchaus normalen Tagesfahrt für den Nomaden aus dem nördlichen Zipfel des Landes zur Verwandtschaft in die Hauptstadt, heute wieder fast ein Lebenstraum geworden.
Die Siedlung Togol selbst ist das Verwaltungszentrum eines Gebietes von der Größe Sachsens, aber der Gesamteinwohnerzahl eines deutschen Dorfes. Neben den 400 Bewohnern der Siedlung Togol leben noch ganze 1'600 Personen in diesem Kreis und einige hundert von denen sind wiederum die erwähnten Rentierzüchter. Wir können uns bei der Vorbereitung der eigentlichen Reise auf die bestmögliche Unterstützung verlassen, da unser Bekannter sozusagen der Landrat dieses Kreises ist.
Wichtigster Punkt bei der Vorbereitung des Unternehmens ist die Suche nach geeigneten Pferden, denn nicht jedes Mongolenpferd das sein Leben in der Steppe verbringt, ist in der Lage, so eine Hochgebirgstour zu absolvieren. Es gibt überhaupt nur eine handvoll Züchter im Gebiet, deren Tiere auf so eine Route trainiert sind. Wir haben also einige Tage Zeit, in denen wir zu Fuß das östlich gelegene Gebirge durchstreifen. Schon bei den ersten Versuchen wird das Problem bei Gebirgstouren in dieser Region klar. Vor der eigentlichen Kletterei steht immer ein strapaziöser Anmarsch durch unwegsame Taiga. Für unsere Touren steht uns kein Weg oder Pfad zur Verfügung. Solange wir uns auf trockenem und festen Boden bewegen kommt man noch relativ flott voran, getrieben von optimistischer Erwartung auf die phantastischen Berge in greibarer Nähe. Bald schon lernen wir aber die andere Seite dieser absoluten Urnatur kennen: riesige versumpfte Wiesen und Buschebenen. Hier schwindet der Optimismus bald, da man nur noch mit klatschnassen Schuhwerk, denn ohne geht gar nichts, von Huckel zu Huckel dieser typischen Buckelmoorwiesen springt. Die Temperaturen um die 10 °C laden zu einem solchen Vergnügen auch nicht gerade ein. Nach Stunden sind wir dann endlich am Übergang der Ebene in die Hänge des Gebirges, hier setzt sich aber das Spiel fort. Der Boden der Gebirgswälder besteht überwiegend aus Stämmen geknickter Bäume, vermutlich durch Lawinen, die von unheimlich dicken Moosschichten überwuchert sind. Entstanden ist somit ein herrlich feuchter Schwamm, der im Untergrund, von in Mikadoordnung gewürfelten Stämmen durchzogen ist, die eine Reihe Stolperfallen und Fangschlingen bilden. Diese Art von Wäldern trifft man etwa in den ersten drei bis vierhundert Höhenmetern beim Aufstieg aus der Ebene an. Langsam wird dann der Baumbestand lichter und niedriger und der Boden unter den Füßen fester. Hier bewegt man sich wieder als Gebirgswanderer wie man es aus den heimatlichen Gefilden gewohnt ist, aber halt – einen Unterschied gibt es ganz sicher: wir sind auf keiner Tour und zu keiner Zeit einem anderen Wanderer begegnet und dem üblichen Berggruß braucht man nie zu erwidern.
Mit jedem Meter über der Baumgrenze bieten sich dann beeindruckendere Ausblicke. Die in diesem Teil der Erde absolut saubere und klare Luft ermöglicht Sichtweiten, die den Eindruck der Entfernungen extrem schwinden lässt. Am schon tiefen Stand der Sonne wird plötzlich klar, das der Gipfel nicht mehr zu erreichen ist. Der Anmarsch durch die Taiga hat zuviel Zeit gekostet. Es bleibt nur der schnelle Rückzug zur Siedlung, da nach Einbruch der Dunkelheit in der Taiga dem Wanderer nur das Warten auf den nächsten Morgen bliebe.
Bei unseren Ausflügen in den nächsten Tagen müssen wir immer dieselbe Erfahrung machen, die Zeit von Sonnenaufgang bis -untergang reicht nicht, einen Gipfel zu erreichen. Der Anmarsch verschlingt einfach zuviel Zeit. Eine Möglichkeit, diesen Weg zumindest zeitlich zu verkürzen bietet sich dennoch. Wir versuchen es dann auch einmal so, indem wir ein riesiges von Geröll übersätes Bett eines der vielen Flüsse wählen. Der Fluss steht im krassen Gegensatz zu seiner Erscheinung. Die bei Hochwasser sicherlich gefüllten Querschnitte sind oft bis hundert Meter breit jedoch nur von einem Flüsschen in dessen Mitte besiedelt.
Der Anmarsch ist verglichen mit den vorhergegangenen Sumpfspringtouren relativ unproblematisch. Wichtig ist dabei bloß, an der richtigen Stelle den Hauptfluss zu verlassen und den Nebenfluss oder Bach zu finden über den man zum gewünschten Aufstieg kommt. Leider haben wir gerade den verpasst und sind nun wieder auf einer ungünstigen Route, so dass ein Erreichen des Gipfels wieder in weite Ferne rückt. In der Zwischenzeit sind in der Siedlung alle Vorbereitungen zur eigentlichen Tour abgeschlossen, und wir beschließen für den nächsten Tag das Unternehmen zu starten. Am Morgen ist vereinbart, dass uns ein Geländewagen zu einem etwa 20 Kilometer entfernt lebenden Pferdezüchter bringt. Der Arate, so der Berufsname für alle mongolischen Viehzüchter, lebt mit seiner Familie am Rande der großen Steppenebene am Fuße des Beltschir Uul Gebirges, der Landschaft, in der die Zaaten wiederum zu Hause sind. Als wir unserem Begleiter das erste mal gegenüber stehen, sind wir doch etwas überrascht, denn er begrüßt uns auf Deutsch und hat zumindest mehr deutsche Vokabeln auf der Pfanne als wir mongolische. Im Grunde genommen ist das in diesem Lande durchaus nichts ungewöhnliches. Wie sich in diesem Fall herausstellt, war seine Frau ein Jahr in der damaligen DDR zur Ausbildung.
Endlich sind wir an dem Punkt, wo unsere Unternehmung unumkehrbar wird, wir legen die Ausrüstung der nächsten drei bis vier fest, die dann auf die Pferde verstaut wird. Die Auswahl überlassen wir unserem mongolischen Führer. Bewusst verzichten wir dabei auf deutsche Hightech-Ausrüstung und vertrauen auf die Erfahrung des Mannes, der hier zu Hause ist. Würden wir bei einem solchen gemeinsamen Unternehmen darauf bestehen, unseren technisierten Kram mitzunehmen, wäre das eine erste Form von Arroganz gegenüber der unbezahlbaren Erfahrung dieser echten Profis. Einzig die Schlafsäcke und eine Taschenlampe nehmen wir aus unserem Bestand. Gepackt werden die Pferde denkbar einfach, indem alles in Säcke verstaut wird, die dann paarweise zusammengebunden hinter dem Sattel übergeworfen werden. Beim Binden der Säcken lernen wir schon einen ersten verblüffenden Trick der Araten kennen, verbunden wird durch einen Kieselstein hinter dem das Sackleinen einfach aber todsicher mit einem nicht mal zehn Zentimeter langen Schnürchen zusammengezogen wird. Zu der Last des Gepäcks kommt nun noch die des Reiters denn wir gehen ohne zusätzliche Pferde, was auch nicht notwendig ist, denn trainierte Pferde tragen hier im mongolischen Hochgebirge bis zu 200 Kilogramm.
Wir beginnen unsere Tour in einer Höhenlage von 1'700 Metern mit langen Ritten durch völlig versumpfte Wiesen der großen Ebene. Nach gut drei Stunden treffen wir auf das erste Hindernis, einen Gebirgsfluss mit starker Strömung und großen Steinblöcken. Mit völlig nassen Füßen ist der kleine Schreck überstanden; die erste Wasserquerung von noch etwa 40 weiteren in den nächsten Tagen. Hier zeigt sich auch der erste Mangel unser eigenen Ausrüstung, die grell bunten und raschelnden Überzieher verunsichern die Pferde und haben in der eben überstandenen Gefahrensituation eines der sonst so sicheren Pferde beinahe scheuen lassen. Wir besprechen die Situation und unser Führer vermutet auch, dass unser ungewohnter Geruch mit Restdüften von Rasierschaum, Spray oder Zahnpaste, den die Tiere natürlich von uns wahrnehmen, noch zusätzlich verunsichert.
In jedem Fall müssen wir die Sache noch etwas vorsichtiger angehen. Ich für meinen Teil versuche mein Pferd mit ständigen Gesprächen in den folgenden Stunden an mich zu gewöhnen.
Meist führt der Weg jetzt über Taigapfade die von essbaren Pilzen übersäht sind. Für einen sicheren Pilzkenner wäre hier die Ernährung in jedem Fall gesichert. Einzig das Risiko durch einen vielleicht doch giftigen Pilz tageweit entfernt von medizinischer Hilfe, eine Vergiftung austragen zu müssen, hält uns davon ab. Aus eben diesem Grund essen auch bis heute die Mongolen nahezu keine Pilze. Allein die Exemplare, die mein Pferd in den nächsten Stunden zertritt hätten für die Pilzmahlzeit einer Schulklasse ausgereicht.
Am Abend überschreiten, oder besser überreiten wir die Baumgrenze und finden uns in einer großen Hochebene wieder, die wir bis zum Einbruch der Dunkelheit noch durchqueren. Ziel der Tagesetappe ist ein Tal mit steil aufragenden Felswänden, an dem die Spuren eines Erdbebens deutlich sichtbar sind, dass vor einem Jahr hier in der Gegend die Erde wanken ließ. Riesige quadratische Felsbrocken sind aus der Klüftung der seitlichen Wände heraus in die Talsohle gestürzt. Erdbeben sind in der Mongolei keine Seltenheit, richten aber im allgemeinen nur geringen Schaden an, da es für Jurtenbewohner fast bedeutungslos ist und auch an den meisten ein- und zweistöckigen Gebäuden in den Kreis- und Bezirkszentren kaum Schaden anrichtet.
Wir nutzen die relativ windgeschützte Talsohle für unser Nachtlager. In wenigen Minuten haben unsere Begleiter ihr typisches mongolisches Reisezelt aufgestellt. Eine aus schwerer Baumwolle gefertigte Unterkunft, die ziemlich zweckmäßig ist und ohne weiteres fünf bis acht Jägern oder Reisenden Platz bietet. Für die anschließende Zubereitung einer Mahlzeit kommt ein seit Jahrhunderten bewährtes Kochgeschirr zum Einsatz, inem im wesentlichen getrocknete oder hochkonzentrierte Zutaten zu einem reichlichen Essen bereitet werden. Auf diesem Gebiet sind die mongolischen Araten echte Profis. Sie beherrschen alle Arten der Konservierung und Gewichtsreduzierung von Lebensmitteln. Der Geschmack ist zwar nicht unbedingt aufregend, aber diese Nahrung sichert dem Mongolen über Tage eine komplette Ernährung ohne sich mit Mengen von Gepäck belasten zu müssen.
Am Lagerfeuer philosophieren wir noch einige Stunden über alles Mögliche zu dem der doppelt klare Sternenhimmel hier mit seinem fast unwirklichen Bild einlädt. Doppelt klar, da zum einem die Höhenlage und zum anderen die ohnehin glasklare mongolische Atmosphäre dieses einmalige Firmament projizieren. Das sind immer wieder die bleibenden Erinnerungen und tiefen Eindrücke, die dem Mongolei-Fahrer nach Steppennächten bleiben, denn mir persönlich ist es in keiner anderen Gegend der Welt bisher so bewusst geworden wie winzig der Mensch und sein Wirken auch heute noch in einer riesigen Landschaft sein kann. Das winzige Feuer, der wahnsinnige Geruch der Steppenkräuter und dazu ein Rundumblick über Dutzende von Kilometern nächtliche Steppe ohne auch ein geringstes Zeichen von Besiedelung. Aus diesem Grunde wage ich auch die Behauptung aufzustellen, dass niemand dieses Land wirklich begreifen kann, wenn er nicht zumindest eine solche Nacht, fern von jeder Jurte, aber nah bei seinen Pferden und so typisch mongolisch erlebt hat. Hier liegen die echten Wurzeln für den Charakter, der auch noch heute dieses Volk prägt.
Am Morgen brechen wir nach einem nur kurzen Schlaf auf und bewältigen gleich auf den ersten Kilometern einen ziemlichen Höhenunterschied. Teilweise wird es so steil, dass nur der mongolische Sattel mit seiner Art Lehne verhindert, dass der Reiter vom Pferd rutscht.
Nach etwa drei Stunden ist die endgültige Höhenlage erreicht. Wir sind knappe 3'000 Meter hoch und stehen am Rande der Ulaan Taiga, einem fast unwirklich erscheinendem Hochgebirgsplateau, das schon das Szenarium eines mehrstündigen Kunstfilmes vom deutschen Oettinger Filmteam geworden ist. Die deutschen Filmprofis hatten hier vor Monaten mit ziemlich aufwendiger mongolischer Unterstützung einen Film über die Zaaten gedreht. Ich selbst habe erst hier durch Mongolen von dem Projekt erfahren. Übrigens sollen nach Aussage der beteiligten Mongolen sogar 5'000 Tugrik als Anteil von einer Prämie nach erfolgreicher Teilnahme des Filmes am Festival in Venedig, hier angekommen sein. Für diese Summe kann man in Togol 25 Liter Benzin erstehen.
Wir stehen aber jetzt am Rande dieser Landschaft und sind überwältigt. Vor uns erstreckt sich eine rote Tundra aus niedrigen Sträuchern mit rotbraunen Blättern und Beeren. Nach Westen stößt sie mit dem unwirklichen azur-blauen Himmel, der mongolischen Nationalfarbe zusammen und im Norden bilden runde vereiste Bergkuppen die Silhouette. Die botanische Zugehörigkeit zu Sibirien hat hier, in Verbindung mit dem Klima der Hochebene auf geographischer Breite Deutschlands eine Tundra des hohen Nordens geschaffen. Kaum vorstellbar, dass etwa 50 Kilometer östlich und 1'500 Höhenmeter tiefer zur selben Zeit in einer vor Hitze flimmernden Salzsteppe Kamelherden harte Kräuter zupfen. Aber das ist typisch für das Territorium der Mongolei. Hier sind nicht die ganz großen landschaftlichen Highlights dieser Welt zu finden wie die Achttausender Tibets, die riesigen Ströme Sibiriens oder die Ausdehnung der Wüsten Australiens, hier ist von alledem etwas, wenn auch in gemäßigter Form, aber dafür auf engstem Raum beieinander.
Nach ein paar Stunden Ritt durch die wunderbare Kulisse des Hochplateaus kann man mit gutem Auge das Zelt einer Zaatenfamilie ausmachen. Das Ziel im Blick lässt die Schmerzen auf dem harten Sattel vergessen und die Pferde zur Eile treiben. Bald sind auch in der Nähe des Zeltes die ersten Rentiere erkennbar. Auf den letzten Metern sind die Pferde kaum noch zu halten, ihnen ist bewusst, dass eine längere Ruhepause bevorsteht.
Vor dem Zelt erwartet uns ein etwa 40-jähriger Mann, der unserem Begleiter bekannt ist. Aus diesem Grund ist die Vorstellung relativ unkompliziert. Bereits nach wenigen Minuten sind wir einander bekannt und der Zaate kennt unsere Beweggründe, die uns hier hoch in sein Land geführt haben. Er selbst lebt hier bei seinen Eltern, die beide über 70 Jahre alt sind. Wir sind seit Monaten wieder die ersten Menschen, die die beiden Alten zu Gesicht bekommen. Uns ist bewusst, dass es das Erlebnis dieser Menschen in den letzten Wochen ist, denn zur unendlichen Freiheit auf dem Hochplateau, das praktisch den Alten allein "gehört" haben sie auch die "Freiheit" über Monate mit keinem anderen Menschen reden zu können bzw. irgendwelche sozialen Bindungen zu haben. Eine Tatsache, die ein europäischer Naturenthusiast schnell vergisst.
Trotz der Seltenheit dieses Ereignisses lassen die Beiden sich äußerlich nichts anmerken. Mit einer einmaligen Ruhe beginnt die alte Dame den kleinen Teekessel zu säubern, indem sie ihn mit etwas Reisig auskratzt. Wir sitzen auf dem Boden des Zeltes das völlig dem der nordamerikanischen Prärie-Indianer gleicht. Das Gerüst besteht aus unbearbeiteten Holzstangen, die an der Spitze überkreuzt sind, über dieses ständig offene Loch zieht auch der Rauch des spärlichen Feuerchens ab, das zwischen ein paar Steinen knistert. Als die Frau den Teekessel darüber stellt, füllt für einige Zeit beißender Rauch das Zelt. Dem der das Leben an gesunder Luft über allem Stadtsmog bejubelt wird drastisch klar gemacht wie trügerisch Klischees eigentlich sein können. Besonders deutlich wird die eigentliche Situation wenn im langen Winter bei Temperaturen unter -40 °C der Rauch im Zelt förmlich stehen bleibt und nach ein paar Tagen dicke Rußfahnen im Zelt hängen. Wir haben im Moment jedoch Sommer und damit unser Weltbild wieder stimmt, setzten wir uns nach dem Begrüßungstee vor das Zelt unter den wahnsinnig azur-blauen mongolischen Himmel.
Während die Rentiere gemolken werden, bereiten wir ein Essen aus mitgebrachten Rohstoffen, da eine reichliche Mahlzeit für vier Gäste den beiden Alten den Vorrat für mindestens eine Woche rauben würde. Neben ihrem Zelt besitzen die beiden lediglich 40 Rentiere, das heißt es stehen im Jahr drei oder im günstigen Fall fünf Tiere zum Schlachten an und das bei Menschen, die so gut wie kein Mehl, geschweige denn Kartoffeln besitzen. Einzig die spärlich fließende Milch der Tiere ergänzt die Nahrung der Beiden, die hat aber so gut wie alles, was der Körper braucht, außer einem guten Geschmack. So sitzen wir bis zum späten Nachmittag, bevor wir wieder aufbrechen, um in zwei Tagen wieder die Zivilisation zu erreichen, die etwa 80 Kilometer entfernt liegende Viehzüchterbrigade, das heißt eine Gruppe von vier oder fünf Mongolen-Jurten, die in der Ebene ihre großen Yak- und Pferdeherden hüten.
Jens Geu, Sommer 1993